Teneber Vid

»Das Mädchen kauerte sich zusammen, Arme um die Knie geschlungen. Es war kalt. Ich werde mir eine Krankheit einfangen. Ich habe mich für unverwundbar gehalten, gedacht, ich müsse mich dem Leben nur immer schön aussetzen, dann würde ich wachsen und verwegen und stark werden.

»Teneber Vid, hatte Vater gesagt, ist der schrecklichste aller Geister, denn er ist die Leere.« 

»Teneber Vid« ist die Geschichte über das Mädchen, das sich erwachsen werdend in die Welt wirft. 

Auf seiner Reise begegnet es merkwürdigen Schlossbewohnern, mitunter bedrohlichen Männern und einem Jungen, der ganz anders zu sein scheint.

Sabine Gisin erzählt in virtuoser Sprache von der Suche nach sexueller Identität und Selbstbestimmung. »Teneber Vid« ist ihr erstes Buch. 

»Bei diesem Mädchen und in dem Roman, durch den Sabine Gisin es begleitet, wirkt vieles zusammen: eine höchst eigenwillige, dennoch klare Sicht auf Menschen und Orte, stilistische Originalität, komische Melancholie, unbändiger Überlebensmut und eine gar nicht sentimentale und deswegen so berührende Sehnsucht  nach jener traumwandlerisch sicheren Nähe, die es mal gab in den wahrhaftigen Märchen der Kindheit.«  Katja Lange-Müller  

Leseprobe

Da und dort ragten Muschelstücke und Reste von Sandwichverpackungen aus dem Sand. Der Junge schüttelte sich die Turnschuhe von den Füssen und rannte mit gesenkter Brust los, als gäbe es keine Grenze zwischen Land und Wasser, pflügte er sich seinen Weg ins Meer, hielt erst an, als das Wasser ihm bis zur Brust stand. Er zog sich das nasse T-Shirt über den Kopf und warf es an Land, wo es als Knäuel liegen blieb. Ein erschöpfter Seehund, murmelte das Mädchen. Das Meer flimmerte, Gleichzeitigkeit kleiner und kleinster Bewegungen. Das Mädchen spürte den Wind an den Schenkeln und entledigte sich seines Kleids, als die Wellen fast schon seine Zehen berührten, streifte auch das Höschen ab.

Das Wasser drückte kühl gegen den Körper. Man wird sich seiner Oberfläche bewusst. So als wäre ich nie zuvor nackt gewesen. Das Mädchen schwamm mit kräftigen Brustschwimmzügen hinaus; die Scherenbewegung der Beine, das Sichzusammenziehen der Schamlippen, ein Kribbeln bis in den Bauch hinein, und die Lungen waren im Brustkorb genau zu spüren. In der Weite lief die Wasseroberfläche glatt aus, nur Flimmern und Dunst am Horizont.

In einiger Entfernung schaukelte bojengleich das Gesicht des Jungen, die Blässe seiner Wangen. Das Mädchen zog die Arme durchs Wasser, hielt auf den Jungen zu, erstaunt darüber, wie rasch es vorwärtsglitt. Es lachte. Möge das dauern, rief es laut. Als es bei ihm war, schlang ihm das Mädchen seine Arme um den Hals, fühlte die Wärme mitten im Nass, drückte dem Jungen einen Kuss auf den Mund.  

Rezensionen

Clara Gauthey im Bieler Tagblatt hier.

Christoph Steier im Buchjahr, Universität Zürich, hier.

Martina Kellers Beitrag in Viceversa lesen Sie hier.